A - Bemerkungen zum Projekt
B - Deutsche Übersetzung der Konzepttexte zu den Bildern
C - Gekürzte Fassung des Artikels "Das stille Leben in Peremaa"
von Julia Chamchovich, MA, 2004
D - Anfang des Kunstbuches "Peremaa"

 

A - Bemerkungen zum Projekt

Von September 2002 bis August 2003 habe ich mich in Perm/Russland aufgehalten und dort das von mir entwickelte Kunstprojekt "Peremaa" durchgeführt. Als Grundlage für meine künstlerische Auseinandersetzung dienten konkrete Orte und Erlebnisse rund um die Stadt Perm, aus denen ich die Themen für meine konzeptuellen Arbeiten abgeleitet habe. Gleichzeitig ging es mir darum, die Blicke von Permerinnen und Permern auf ihre Stadt einzufangen. Neben zahlreichen Gesprächen mit Einheimischen habe ich in Zusammenarbeit mit Martina Löhr Textfragmente von Permer Autoren und Autorinnen gesammelt, die, je nachdem, kritisch, fragend, fantasievoll, eine neue Wahrnehmung der Stadt möglich machten. Das Ergebnis meines Arbeitsaufenthaltes ist "Peremaa", eine Reihe konzeptuelle Bilder die in Form von C-Prints auf Banner an das klassische Tafelbild erinnern, sowie ein Kunstbuch mit Konzepten und Texten zu der Stadt Perm im Ural. Lydia Koch 2003

B - Deutsche Übersetzung der Konzepttexte zu den Bildern

"Angeln ist nicht nur Fische fangen - oder - Opium fürs Volk"
Ort: eine Unterführung zur Kama, ulitza Okulowa,, Höhe Komsomolskij Prospekt
In einer Unterführung zur Kama werden auf Augenhöhe in dichtem Abstand Fische verschiedener heimischer Arten aufgehängt. Die Fische hängen an Angelschnüren von der Decke herab und füllen den gesamten Raum der Unterführung aus. Aufgrund der winterlichen Temperaturen bleiben die Fische in gefrorenem Zustand genießbar.
Material: 480 Fische von 30 bis 40 cm Länge, Angelschnüre.
Perm, Januar 2003

"Die Pfandflaschensammlerin"
Ort: Staatliche Gemäldegalerie auf dem Komsomolskij Prospekt; Straße im Stadtteil Motowilicha
Eine Pfandflaschensammlerin wird an ihrem Arbeitsort gefilmt. Das Aufgezeichnete wird per Internet zeitgleich auf einer Leinwand in einem Ausstellungssaal der Staatlichen Gemäldegalerie übertragen.
Material: Videokamera, 2 Computer mit Internetanschluss, Beamer, Leinwand (200x450cm). Perm, Februar 2003

"Baschnja"
Ort: Werbeflächen auf der Verkehrsinsel im Zentrum des Komsomolskij Platzes
Auf allen Werbeflächen des Platzes wird die Computer bearbeitete Fotografie des Gebäudes des Innenministeriums des Permer Gebiets (im Volksmund "Todesturm" genannt) angebracht. Grundlage für dieses Konzept ist die Oral History dieses Gebäudes, Geschichten, wie sie von Einheimischen zu diesem Ort erzählt werden.
Material: 9 Digitalprints verschiedener Größen. Perm, März 2003
"Chruschtschowka"
Ort: Wohnhaus, ulitza Popowa, Ecke ulitza Bolschewistskaja
Auf die Außenwand einer so genannten Chruschtschowka (Plattenbauten, Ende der 1950er / Anfang der 1960er unter Chruschtschow erbaut) wird eine Bildcollage aus aufeinander gestapelten Zuckerwürfeln projiziert.
Material: Diaprojektor, Diapositiv. Perm, Dezember 2002

"Vitaminstation"
Ort: ulitza Krasnopoljanskaja im Industriestadtteil "Welta"
Aus gesammeltem Altmaterial (Wellblech, Eisenstangen, Holzbrettern, Pappe u.a.) wird eine Art Verkaufsstand errichtet. Über einen Zeitraum von einer Woche, werden dort täglich Vitaminpräparate zur freien Mitnahme ausgelegt.
Material: Baumaterial (s.o.), Vitaminpräparate. Perm, Februar 2003

"Kosmonautin"
Ort: Kulturpalast der Stadt Perm im Swerdlowskij Rajon; Statue einer Fliegerin rechts neben dem Haupteingang (links neben dem Haupteingang steht die Statue eines Fliegers).
Die Statue wird in himmelblaue Kunststofffolie eingehüllt und mit Paketband gleichsam verschnürt.
Material: Kunststofffolie, Paketband. Perm, November 2002

"Hymne"
Ort: ulitza Osipenko 50 / 30, eine Privatwohnung
Leise, doch mit viel Pathos vorgetragen, erklingt aus zwei Miniboxen die Sowjethymne, gesungen von Antje Heidefuß, am Klavier Charlott Dahmen, aufgezeichnet in Köln im August 2002; Die Boxen stehen auf einem hellblauen Höckerchen, dieses wiederum auf einem Nussbaumtisch mit ausgezogener Tischplatte. Vor dem Hocker auf dem Tisch liegen drei rote Nelken. Darüber an der Wand, vor dezentem grauen Tapetenmuster hängt
eine Fotomontage in einem alten Rahmen , girlandenartig umringt von gelben Plastikblumen. Das Foto zeigt alte Damen auf einer Parkbank, rechts von ihnen eine Kinderlokomotive mit rotem Sowjetstern. Es ist Herbst.
Material: 2 Miniboxen, MD-Player, 1 Holzhöckerchen, Nussbaumtisch, 3 Nelken, Rahmen 25 x 50 cm, Plastikblumen, Fotomontage.
Perm, September 2002

"Öl ist Arbeit - Öl ist Leben"
Ort: ulitza Lenina, Werbefläche vor dem Gebäude des Ölkonzerns Lukoil-Permöl
Auf der Werbefläche wird auf 300x600 cm folgendes Motiv plakatiert:
2 Panzer vor grünem Hintergrund, daneben Konfektpapier mit Blumenmuster (von Einheimischen leicht als "Romaschka", beliebte Pralinensorte, zu erkennen). Der Titel der Arbeit nimmt den Werbeslogan von Lukoil auf, der vorher an dieser Stelle zu lesen war.
Material: Digitalprint 300x600 cm.
Perm, Oktober 2002

 

C - Gekürzte Fassung des Artikels "Das stille Leben in Peremaa"
von Julia Chamchovich, MA, 2004

Peremaa nannte man das ferne Land im tiefsten Inneren Russlands, (n)irgendwo im Ural, in der Taiga, ungefähr da, wo sich heute die Stadt Perm befindet. "Peremaa" nennt sich das Konzeptwerk von Lydia Koch, das die Provinzstadt zur Protagonistin hat. Eine "ProtagonistIN", weil das Werk das Kriterium "belebt-unbelebt" in Bezug auf eine Stadt ins Licht rückt.
Das Werk "Peremaa" besteht aus Texten unterschiedlichen Ursprungs und Beschreibungen bzw. Abbildungen virtueller Installationen.
Die Künstlerin erschafft aus dem vorgefundenen Textmaterial und in enger Verbindung zu öffentlichen Orten der Stadt neue Mythen. Das Werk verführt den Betrachter dazu, neue eigene Geschichten zu dichten: ein Plattenbau aus den 60ern, Außenwände (denn man wagt nicht etwas "Fassade" zu nennen, was zu allen Seiten gleich gesichtslos ist) einst mit weißen Fliesen versehen, darauf eine Collage aus gestapelten Zuckerwürfeln projiziert. Kurioserweise haben Fliesen und Zucker ähnliche Eigenschaften: irgendwie weiß und rechteckig, aber gerade die Gegenüberstellung der beiden lässt ahnen, dass das Leben in den "Zuckerhäusern" kein Zuckerschlecken ist. Es wäre denkbar, dass die Bewohner dieser Häuser von einem Leben in weiß und süß weit-weit weg träumen. Weit-weit weg scheint auch die "Kosmonautin" entflohen zu sein. Die hellblaue Kunststoff-Folie macht eher ihre Ab- als Anwesenheit deutlich. Sie war einmal eine Frau, die mit technischen Hilfsmitteln fliegen konnte. Nun ist sie wirklich in die himmelblauen Sphären gestiegen und unten vor dem Kulturpalast ist letztlich eine Geste geblieben, die durch das Klebeband festgehalten wird. Ob diese Geste nun als ein Tribut der irdischen Existenz zu verstehen ist, die politischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen unterworfen ist, oder als ein Gruß an das eigene frei schwebende Ich, bleibt gerne offen. Anders verhüllt ist eine männliche Figur. Wenn man wollte, könnte man einen Wettbewerb veranstalten, um zu erraten, wer unter dem roten Stoff steckt. Aber im Grunde ist das absolut irrelevant, denn allein die Farbe signalisiert: hier ist das Erbe der sozialistischen Epoche im Spiel und man sollte den Mann unter dem roten Schleier lieber in Ruhe lassen, ansonsten könnte man leicht zum gefundenen Fressen für die machtgierige Vergangenheit werden.
Es gibt aber in der Stadt genug Platz für Denkmäler anderer Art. So eins ist das "Denkmal für den unbekannten Künstler". Eine Birkenlandschaft besetzt mit heimischen Halbedelsteinen, angebracht zwischen zwei giftgelben Säulen auf der rosafarbenen Wand des "Permer Gebietskomitee der Gewerkschaft der Kulturarbeiter". Was wird auf die Schippe genommen? Die Geschmacklosigkeit der provinziellen "Kultur"? Das Bemühen, die angeblich freigeistigen "Kulturarbeiter" administrativ zu verwalten? Wird das von jeglicher Reflexion freie Schaffen bewundert? Oder ist es die Geschichte eines genialen Künstlers, der der tyrannischen Gewerkschaft zum Opfer fiel?
Und es sind viel mehr Geschichten, die in den "Peremaa"-Bildern zu lesen sind.
Den Bildern ist allerdings stets eine sachliche Beschreibung dessen, was abgebildet ist, beigefügt, die allerdings auch zu dem visuellen Erlebnis gehört und deren fester Bestandteil ist. Diese Koexistenz und Verbundenheit von Text und Bild erinnert sehr an die Werke der russischen Konzeptualisten wie Ilya Kabakov oder Victor Piwowarov. Allerdings wirken die Bildtexte von L. Koch wie eine Gebrauchsanweisung (wo, wann und wie das Ganze auszuführen ist), während die Texte von Kabakov und Piwowarov eher wie Stimmen aus dem Bild bzw. aus der unmittelbaren geistigen Umgebung des Bildes anmuten. Durch diesen sachlichen Ton wird eine Denk-Richtung angegeben, damit der Betrachter nicht den Faden verliert, dem Rezipienten wird aber genug Freiraum für Stimmungen, Geschichten und Atmosphäre gelassen, was auch der Intention der russischen Künstler entspricht, im Wirrwarr der Zeichensysteme (offizielle Sprache, politische Symbole, gesellschaftliche Richtlinien) privat zu bleiben. Darin steckt eine weitere Ähnlichkeit mit dem Werk der beiden Konzeptualisten: "Peremaa" existiert in zwei Ausführungen - als zweidimensionale Bilder und als Buch. Die letztere - die des Buches - wie die Form eines Albums bei Kabakov und Piwowarov unterstreicht noch einmal den Wunsch des Künstlers, nach einer privaten tiefgreifenden Auseinandersetzung des Betrachters mit dem Werk.

D - Anfang des Kunstbuches "Peremaa"

Während der Notlandung der "Voskhod-2" blieb die Kabine der Landekapsel zwischen Kiefernbäumen stecken. Aleksej Leonow und Pawel Beljajew mussten sie lange hin und her rütteln, bis sie die Luke frei bekamen.
Leonow hatte den hellblauen Saum um die Erde, den dritten Planeten des auf das Sternbild Herkules zulaufenden G-2-Sterns, gesehen. Auf der Erde hatte er keinerlei Grenzen gesehen.
Den ersten Schritt nach dem Austritt in den offenen Kosmos, den K-Raum, tat der Mensch ausgerechnet auf Permer Boden.
Es war eine Notlandung - die Kosmonauten waren per manueller Steuerung, um das Ziel nicht zu verfehlen und wirklich in Russland anzukommen, gelandet und fanden sich in solch einer Wildnis wieder, in solch einer Usolsker Taiga, in solch einem Ural, solch einem Tscherm, dass man sie erst am dritten Tag fand. Vor allen anderen, auch vor der staatlichen Kommission, hatte sich der Holzfäller Nasedkin von der Usolsker Forstwirtschaft zu ihnen durchgekämpft. Er hatte einen Laib Brot und ein Stück Speck genommen; die Hausfrau in Tränen - was den Kindern geben? Er hatte das törichte Weib gescholten, sich auf die Jagdschier gestellt und los ging's. Er sah das Feuer im Schnee. Sie umarmten sich. Legten den Speck aufs Brot. "Wie heißt du denn?" "Ljoscha." "Und du?" "Wasja!" (Semjon Waksman)